Als ich das Dorf erreichte, dämmerte es bereits. Das Gewitter
hatte mich eingeholt, obwohl ich geritten war, als wäre der Teufel
hinter mir her. Mein Pferd war schweißnass und an mir war keine
trockene Faser. Die Hauptstrasse war menschenleer und nur aus einer
der windschiefen Hütten flackerte der Schein eines Feuers durch
schmutzige Butzenscheiben. Ich band den Gaul neben der Tränke an
und klopfte an die Tür. Ein buckliger Greis mit schlohweißem Haar
öffnete und sah mich fragend an. Ich schilderte kurz meine Lage und
bat um ein Dach über dem Kopf, wenigstens für diese eine Nacht. Der
Alte murmelte etwas Unverständliches und bedeutete mir einzutreten.
Ich musste mich bücken, um mir den Kopf nicht zu stoßen, so niedrig
war der Raum, den ich nun betrat. In der Mitte brummte ein
pechschwarzer gusseiserner Ofen, auf dem in einem rußigen Topf eine
Suppe köchelte. Daneben standen ein einfaches Bett und ein ebenso
grob gezimmerter Tisch. An den durch Rauch geschwärzten Wänden
fanden sich noch eine alte Anrichte und eine Leiste mit Haken, an
denen ein Lodenmantel, ein speckiger Jägerhut mit einem riesigen
Gamsbart und eine Büchse hingen. Eine Tür führte offenbar noch in
einen weiteren Raum.
Ich entledigte mich meines nassen Mantels und nahm auf einem
Holzklotz neben dem Ofen Platz. Der Alte holte zwei Steingutschalen
aus der Anrichte, schöpfte jede randvoll mit dampfender Suppe und
stellte sie neben mich auf den Tisch. Dann verschwand er im
Nebenraum und kehrte mit einem riesigen Laib Brot wieder, von dem
er zwei dicke Scheiben abschnitt. Er setzte sich mir gegenüber und
begann schweigend zu essen. Ich folgte seinem Beispiel. Die Suppe
war heiß und gut. Ich löffelte sie gierig und wischte die Schale
mit dem Brot aus. Der Alte bemerkte dies, lächelte und schenkte mir
nach. Als ich schließlich fertig war, räumte der Alte die Teller
weg und stellte eine Flasche mit Schnaps und zwei Gläser, die er
ebenso randvoll füllte, auf den Tisch. Er prostete mir zu und
leerte sein Glas auf einen Zug. Dann sah er mich an und fragte, was
ich hier wolle. Ich erzählte ihm von meinem Auftrag, worauf er sein
Glas erneut füllte und kopfschüttelnd meinte, ich müsse von Sinnen
sein, und ob ich denn die Geschichten um den geheimnisvollen Hügel
nicht gehört hätte? Als ich verneinte, leerte er sein Glas, wischte
sich mit dem Ärmel den Mund und erzählte mir, was er wusste.
„Schon lange bevor es Menschen in dieser Gegend gab, war der
Hügel ein besonderer Ort. Früher jedoch war er ein Sammelpunkt des
Lebens. Nirgends sonst gab es eine solche Vielfalt an Tieren und
Pflanzen. Davon zeugen die zahllosen Knochenfunde und
Versteinerungen, welche die Holzarbeiter manchmal von ihrem
Tagewerk mitbrachten. Die ersten Menschen kamen im zweiten
vorchristlichen Jahrtausend auf der Suche nach Kupferlagerplätzen
in das Gebiet. Und sie wurden fündig. Unweit von hier fand man ein
großes Gräberfeld mit wertvollen Grabbeigaben. Die Menschen spürten
die Kraft des Hügels und suchten besondere Stellen an denen sie
diese besonders stark empfanden. Hier richteten sie Opferplätze
ein, an denen sie der Gottheit des Berges Opfer darbrachten. So
begann der Bergkult, der sich bis in die Römerzeit und das
Mittelalter fortsetzte. Auch das wissen wir von Spuren, wie
Tonscherben, die wir an den Orten der Kraft fanden. Auf dem Gipfel
befand sich ein großer Felsen, der Opferstein oder Fixpunkt eines
„Steinernen Kalenders“ zur Zeitbestimmung war. Die Menschen lebten
im Einklang mit der Natur und der Gottheit des Berges. So war alles
im Lot, bis zur ersten Jahrtausendwende nach Christus.
„Da kam aus dem Osten ein Ritter mit seiner Gefolgschaft und
nahm den Hügel und das umliegende Land in Besitz. Sein Name war
Grymoald der Rugelaere. Er war Markgraf Leopold im Kampfe
beigestanden und hatte als Lohn die Ländereien um Grymenstaine
erhalten. Grymoald war ein grausamer und böser Mensch. Er
errichtete auf dem Felsen am Gipfel des Hügels eine Burg, von der
aus er mit aller Härte das Land regierte. Die Bauern, welche bis
dahin in Frieden und Eintracht die fruchtbaren Äcker bestellt
hatten, mussten fortan die Hälfte ihrer Ernte an die Burg
abliefern. Taten sie dies nicht pünktlich oder war die Ernte
schlecht ausgefallen, so hielt sich Grymoald an ihnen und ihren
Familien schadlos. Er brandschatzte in den Dörfern, tötete das
Vieh, schändete die Mägde und so mancher Bauer musste den Zorn des
Ritters mit seinem Leben bezahlen. Das einst reiche Land verarmte
zusehends und wo früher Überfluss geherrscht hatte, lebten Mensch
und Tier bald in bitterer Not. In den Wäldern gab es kein Wild
mehr, denn Grymoald hatte alles leer gejagt, doch nicht um des
Fleisches willen, sondern aus purer Lust am Töten. Immer wilder
trieb es der schreckliche Raubritter. Auf seinen Raubzügen
begleiteten Grymoald meist seine Söhne, die ihm an Grausamkeit in
nichts nachstanden. Der brutalste unter ihnen war Albero, ein Riese
von Gestalt, mit Pranken, so groß wie Wagenräder und Armen und
Beinen wie Baumstämme. Immer wieder gab es große Gelage, bei denen
sich die wilden Gesellen besinnungslos betranken und dann wie die
Wilde Jagd zu Tale ritten, um in den Dörfern ihr Unwesen zu
treiben. Die Bauern lebten in Schrecken und einer nach dem anderen
verließ das Land. Wer mutig genug war, zu bleiben, dessen Töchter
und Frauen wurden von den Grymenstainern in die Burg verschleppt,
wo sie geschändet wurden oder als Mägde den Herren dienen mussten.
Und wenn sich einer zur Wehr setzte, so landete er im Verlies und
sah die Freiheit nie wieder.
„Auf einem dieser Raubzüge kam Grymoald zu dem Kultplatz an
der Flanke des Hügels. Es war ein heißer Sommertag und die
Bauernkinder hatten den Ort aufgesucht, da es hier immer angenehm
kühl war und aus den Felsen ein kleines Rinnsal entsprang, an dem
sie sich erfrischen konnten. Auch gab es in der Seitenwand des
Platzes Felslöcher, durch die man schlüpfen konnte und in der
Umgebung gab es viele Höhlen, in denen es sich vortrefflich
verstecken spielen lies. Grymoald donnerte auf seinem schwarzen
Ross mitten in die Schar der Kinder. Was mit einem Rausch aus Wein
begonnen hatte endete in einem Blutrausch. Nur ein Kind entging dem
Wüten des Irrsinnigen. Es hatte sich in einer der Höhlen versteckt
und voll Grausen das Gemetzel beobachten müssen. Von der Hitze, dem
Wein und dem Wüten erschöpft, ließ sich Grymoald neben seinem
grausamen Werk nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Das Kind
aber nutzte die Gelegenheit und lief so schnell es konnte ins Dorf
und berichtete, was geschehen war. Dies nun brachte den Zorn und
die Ohnmacht der Bauern zum Überlaufen, sodass sie sich mit
Mistgabeln, Sensen und Knüppeln bewaffneten und zum Kultplatz
aufbrachen. Grymoald lag noch immer im tiefsten Schlaf neben den
Leibern der hingemetzelten Kinder. Als die Bauern dies Bild des
Grauens sahen, konnte sie nichts mehr halten und Grymoald ereilte
sein gerechtes Schicksal. Den Leichnam des Unholdes schmissen sie
ins Gestrüpp, den Tieren zum Fraß, denn ein Begräbnis in geweihter
Erde würde dieser gotteslästerliche Mensch nicht erhalten. Albero
jedoch war seinem Vater gefolgt und er fand den Toten, der so
zugerichtet war, dass er ihn kaum erkannte. Sein Wutschrei war bis
in die Dörfer zu hören und die Bauern packten aus Angst vor der
unweigerlichen Rache der Grymenstainer ihr Hab und Gut und
verließen das Land für immer. Albero und seine Brüder aber
bestatteten ihren Vater in einem goldenen Sarg auf dem Gipfel des
Hügels.
„Bald darauf wurde die Burg von kriegerischen Magyaren
gestürmt. Viele der Grymenstainer ließen bei dem Überfall ihr Leben
und die Burg ward für immer zerstört. An einer der Flanken des
Hügels errichteten jene, die mit dem Leben davonkamen später eine
neue Burg, doch der Untergang des Hauses Grymenstain war besiegelt.
In den folgenden Jahren ward die Burg mit der Herrschaft Pitten
vereint. Später gelangte sie in den Besitz des St. Georgs-Ordens,
der Freiherren von Petrowitsch, und der Grafen von
Stella-Caracciolo. Die Besitzer wechselten häufig, denn seit der
schrecklichen Tat Grymoalds lag ein Fluch auf dem Hügel. Manchmal
kamen Schatzjäger, die den goldenen Sarg Grymoalds suchten, doch
keiner blieb lange da oben, und viele berichteten, dass es dort von
Geistern nur so wimmle. Und manche blieben für immer auf dem Hügel
verschollen.
„Nun, Fremder, da ich dich von deinem Vorhaben nicht
abbringen kann, so will ich dir zumindest einiges mit auf den Weg
geben, auf dass es dir besser ergehe, als so manchem vor dir. Nimm
diese
Karte. Sie wird dir gute Dienste leisten, auch wenn sie
vergilbt ist und an manchen Stellen Brandlöcher aufweist. Auch
diese Fackel musst du mit dir führen, denn ohne sie wirst du dein
Ziel nicht erreichen! So, nun höre also und merke dir genau, was
ich dir sage! Am Ausgangspunkt deines Weges findest du eine kleine
Kapelle. Bei dieser bete andächtig und bitte um Gottes Schutz und
Hilfe. Merke dir den dritten Buchstaben der schmiedeeisernen
Aufschrift und verwandle ihn in eine Zahl (D). Sodann
schreite fort gen Süden und bedenke, dass stets der rechte Weg der
rechte ist. Nach gut und gerne zweitausend Schritt wirst du einen
Baum erreichen. Hier kannst du in Ruhe verweilen, denn der Boden
ist geheiligt und nichts Böses kann dir hier widerfahren. Bevor du
dich aber auf dem Bänklein niederlässt, merke dir die zweite Zahl
(J) und den zweiten Buchstaben auf dem geheiligten Baum.
Auch diesen Buchstaben mögest du in eine Zahl verwandeln
(B). Wenn du soweit bist, so schreite fort in östlicher
Richtung und du wirst nach etwa siebenhundert Schritten einen
Verbündeten treffen. Auch hier kannst du in Ruhe verweilen, denn er
wird dich mit seiner Armbrust vor allem Unbill bewahren. Die
Buchstaben seines Namens sollst du in Zahlen verwandeln und diese
addieren. Die erste Ziffer des Ergebnisses merke dir als
(E). Vielleicht geleitet der Freund dich noch ein Stück des
Weges. Dieser führt dich nun in nördlicher Richtung gut tausend
Schritt an einen
finsteren Ort. Hier wird dir die Fackel von Nutzen sein.
Doch hüte dich, wenn du dich weiterwagst, denn giftige Spinnentiere
und Vampire lauern hier überall und mancher hat hier sein Leben
gelassen. Sei stark im Glauben und suche das Zeichen. Es möge dich
leiten, damit du die geheime Formel findest, denn nur mit ihr wirst
du am Ende siegreich sein. Doch nur ein Teil der Formel verbirgt
sich hier. Willst du auch des zweiten Teiles habhaft werden, so
tritt ins Freie und blicke gen Westen. Nur dreißig Schritt und
erneut musst du die lichte Welt verlassen. Nur gut, dass du so
schlank und groß gewachsen bist, denn hier ist das Zeichen nicht so
leicht zu finden und es wird wohl einiger Verrenkungen bedürfen um
schließlich die ganze Formel zu erfassen. Hast du diese Prüfung
auch erfolgreich bestanden, so eile weiter gen Westen. Der schmale
Pfad führt dich nach etwa zweihundert Schritten an jenen heiligen
Platz, den einst Grymoald entweihte. Verweile hier und spüre die
Kraft, die von diesem Ort ausgeht. Nimm sie auf, denn für den
weiteren Weg wirst du sie brauchen! Auch musst du frei von Sünden
sein, wenn du das Böse besiegen willst. So schlüpfe also durch das
Loch an der linken Wand und streife alle Sünden ab. Erst dann
erscheint die Schrift an der Wand auf der anderen Seite des
Kultplatzes. Sie ist rot, wie einst das Blut der Kinder, das hier
vergossen wurde. Merke dir die zweite Ziffer als (H). Sodann
folge dem Pfad nochmals zweihundert Schritte nach Westen zu einer
Weggabelung. Hier wende dich zunächst nach Osten und dann nach
Süden und steige bergan, bis du nach fünfhundert Schritten das Haus
derer von Grymenstain erreichst. Studiere die steinerne Chronik und
merke dir von der niedrigsten Jahreszahl die zweite (C), die
dritte (G) und die vierte Ziffer (I). Von der
höchsten Jahreszahl hingegen merke dir die zweite Ziffer (A)
und von der verbleibenden Jahreszahl die letzte Ziffer (F).
Von da an bist du ganz auf dich gestellt, denn noch nie kehrte
einer zurück, der diesen Punkt überschritten hatte. Ich wünsche dir
Glück und Gottes Segen.“
Mit diesen Worten erhob sich der Alte vom Tisch, blies die
Kerzen aus und legte sich in sein Bett. Ich sah nochmals nach
meinem Pferd und rollte dann meine Decke auf dem Boden in einer
Ecke des Raumes auf. Ob ich überhaupt würde schlafen können? So
viel schwirrte in meinem Kopf umher. So vieles, das mir noch unklar
war. So viele unbeantwortete Fragen. Aber es war nicht mehr zu
ändern. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Der morgige Tag würde
Klarheit bringen.
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