Donauwörth/Hafenreut Jakob Reiner (Jahrgang 1927) aus Hafenreut erzählt von einem Erlebnis, das sich vor mehr als 60 Jahren in sein Gedächtnis einbrannte und das er auch nie mehr vergessen wird. Es ist anzunehmen, dass gerade an Weihnachten die Erinnerungen wieder besonders lebendig werden.
An einem Sonntagvormittag im Januar 1946 macht sich Jakob Reiner auf den Weg durch den Stadtwald von Hafenreut nach Donauwörth. Da in der Nacht etwa zehn Zentimeter Neuschnee gefallen waren, beschließt er, die Skier zu nehmen. Im Abschnitt Forstgarten/Oberer Streitgern macht er dann eine erschütternde Entdeckung: Zwei kleine Mädchen, offenbar erfroren und vom Neuschnee zugedeckt, bekleidet mit Mantel und Stiefeln, Handschuhen und Mützen. Sofort weiß er, um was es hier geht. Die Nachricht und das Entsetzen hatten sich bereits ausgebreitet: In Donauwörth waren seit Weihnachten zwei vierjährige Kinder verschwunden.
In den Wirren der Kriegszeit hatte es die Familie Lebedew aus Russland 1943 in die Tschechei und im März 1945 nach Donauwörth verschlagen. Dort wohnte sie mit fünf Personen (Eltern, Tante und den beiden Schwestern Elvira und Eugenja) in sehr beengten Verhältnissen im Parterre des "Armenhauses" in der Pflegstraße in Donauwörth. Zum Weihnachtsfest 1945 wurde ein Christbaum mit Papierschleifen geschmückt. Geschenke gab es kaum.
In ihrer Freude über Weihnachten glaubten die kleine Eugenja und ihre Freundin Elfriede, der Nikolaus und das Christkind würden im Wald wohnen. Am Mittag des 26. Dezember wurden sie noch gesehen und ihr Verschwinden am Spätnachmittag bemerkt. Die besorgten Angehörigen machten sich an den Lieblings-Spielplätzen der Mädchen und bei Bekannten auf die Suche. Bald beteiligten sich viele Donauwörther Bürger. Als man schon nahezu aufgegeben hatte, fand sie Jakob Reiner etwa vier Wochen nach ihrem Verschwinden.
Einen Apfel vom Verwalter
Ihr Weg führte die Kinder mit ziemlicher Sicherheit vorbei am Kalvarienberg in Richtung Parkstadt. Auf dem Schellenberg gingen sie weiter nach Norden und gelangten zum Gut Lederstatt. Dort erhielten sie vom Verwalter einen Apfel und wurden mit der Ermahnung, nach Hause zu gehen, weiter geschickt.
Bei bereits einbrechender Dämmerung erreichten sie in den Donauwörther Forst. Auf morastigem Boden verirrten sie sich immer weiter in den Wald hinein. So schliefen sie offensichtlich vor Erschöpfung ein und erfroren. Wenn man eine Entführung ausschließt, so ist es erstaunlich, wie die Kleinen die etwa sieben Kilometer lange Strecke bewältigen konnten. Eugenja war ein sehr aufgewecktes, agiles und ausdauerndes Mädchen. An ihr bewahrheitete sich in erschütternder Weise das russische Sprichwort "Wer schlau ist, wird nicht sehr alt".
Als Jakob Reiner die Vermissten findet, lenkt er seine Skier in Richtung Zirgesheim. Seine traurige Entdeckung meldet er beim Bürgermeister (wohl Georg Ziegelmeyer) und wartet, bis die Polizei kommt. Er führt die Beamten zum Fundort und hilft bei der Bergung der kleinen Körper. Ein Schlitten, gezogen von zwei Rössern, bringt sie dann nach Zirgesheim. Mit einem Leiterwagen, vorbei am Armenhaus, treffen sie später an der Friedhofskirche St. Johann ein; dort werden sie anschließend aufgebahrt. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung bestattet Stadtpfarrer Joseph Wunderle Eugenja und Elfriede am 30. Januar 1946 in zwei nebeneinanderliegenden Gräbern.
Die letzte Ruhestätte von Eugenja findet man noch heute unter den Kindergräbern des Städtischen Friedhofs, liebevoll gepflegt von ihren Angehörigen. Am Denkmalweg des Stadtwaldes lassen sie einen Stein mit den Namen der beiden Mädchen setzen. So mancher Wanderer macht dort eine Pause und gedenkt des schrecklichen Ereignisses. Eine Jahresmesse jeweils um den Dreikönigstag erinnert noch heute an das tragische Geschehen. Über Elfriede Schäferling (geboren am 22. Juli 1941) sind leider keine Einzelheiten bekannt. Ihr Grab neben Eugenja gibt es nicht mehr. Polizeiliche Ermittlungsakten sind unauffindbar.
Fleiß und Können
Eugenjas Angehörige leiden zeitlebens unter dem unfassbaren Tod ihrer Tochter und Schwester. Doch der schwere Schicksalsschlag hat sich nicht entmutigt: Durch Fleiß und Können baute sich die Familie Lebedew in Donauwörth eine allseits geschätzte und geachtete Existenz auf.
Weidner besitzt nämlich ein Sterbebild der kleinen Elfriede und stellte sogar den Kontakt zu einer Verwandten des Mädchens her. Mit der setzte sich Katzl dann in Verbindung und erfuhr, dass die Mutter von Elfriede, Katharina Bassmann, ein hartes und entbehrungsreiches Leben führte.
Grab existiert nicht mehr
Vor ihrer Tochter brachte Katharina Bassmann zwei Söhne zu Welt, von denen einer in jungen Jahren in der Wörnitz ertrank. Selbst starb sie Anfang der 1960er-Jahre im Alter von nur 52 Jahren. Ihr Grab existiert nicht mehr. (fk)
Quelle Donauwörther Zeitung