© DIE ZEIT 21.08.2003
Nr.35
Der
große Verschollene
Von Christof
Siemes
Keiner konnte dribbeln
wie er, keiner konnte schweigen wie er. Helmut Rahn war der
bedeutendste deutsche Fußballer. Ein Nachruf
Stellen Sie sich vor,
Franz Beckenbauer brächte die Kraft auf, die nächsten 20 Jahre den
Mund zu halten. Keine Werbung für Telefone, Schrauben, Bier mehr,
keine halb garen Kommentare und gefühlsduseligen Rückblicke, kein
»Schaun mer
mal« mehr. Ohrenbetäubend würde das Schweigen sein. Das Schweigen
von Helmut Rahn war noch ohrenbetäubender. Weil er der bedeutendere
Spieler ist. Der Kaiser hat das Land mit seiner Spielkunst bloß
unterhalten, der Boss hat es verändert. Und begehrte irgendwann,
nicht mehr darüber Auskunft geben zu müssen.
Er wollte nicht mehr
sprechen über die vielleicht größte Sportsensation des 20.
Jahrhunderts, die er, der Bergmannssohn aus
Essen-Katernberg, möglich gemacht hatte
an jenem 4. Juli 1954. Sein Treffer zum 3:2 gegen Ungarn machte
Deutschland erstmals zum Fußballweltmeister, und nicht wenige
behaupten, dass die Bundesrepublik erst in diesem Moment wirklich
gegründet wurde. Weil es der erste Sieg war, auf den dieser aus der
größten Niederlage aller Zeiten entstandene Staat stolz sein
konnte. Weil er ohne fremde Hilfe zustande gekommen war, errungen
von ein paar bodenständigen Kerlen, die sich wie so viele Deutsche
schlecht und recht durch Nationalsozialismus und Krieg gewunden
hatten. Weil es das Wunder war, auf das die Deutschen in den zwölf
braunen Jahren nach menschlichem Ermessen jeden Anspruch verloren
hatten.
Rahn hat mit seinem
Schuss in der 84.Minute all das losgetreten. Warum wollte er
»dat Tor« dann nicht mehr erzählen? Er
konnte es doch so gut. »Der Ball fällt mich vor die Füße,
jenau auf’m rechten.
Un in die Sekunde
wusst ich
jenau, wat
jetz passiert. Die zwei Ungarn, der
Lorant un
der annere, stürzen sich auf mich zu.
So richtig mit Jewalt. Ich lass se
kommen und zieh dann die Kirsche schnell
von’n rechten auf’n linken Fuß. Und da,
Mann, ich seh et noch wie heute, hab
ich dat
janze Gelände vor mir. Keine 20 Meter
von’n Tor weg, inner Position von den
Halbrechten, und der Grosics steht
akkurat so, dat in seine Ecke Platz is.
Ich zieh ab mit den linken Fuß, und dat
jibt so’n
richtig jefährlichen Aufsetzer.
Un wat dann passiert
is, dat
wisst ihr ja.« Dann ist nichts mehr wie
zuvor. Das Land nicht und Helmut Rahn auch nicht. Aus dem
talentierten Flügelstürmer, der von Altenessen 12 über
Oelde 09 und die Sportfreunde
Katernberg schließlich zu Rot-Weiß
Essen und für 40 Spiele in die Nationalmannschaft gelangt ist, wird
ein Volksheld. »Lasst mich leben, so lasst mich doch
leben!«, hat er nach dem alles
entscheidenden Tor seinen Mitspielern zugerufen, die ihn im Jubel
fast erdrückten. Jetzt umarmt ihn ein ganzes Land. »Jeder kannte
mit einem Mal Helmut Rahn, aber Helmut Rahn kannte seinerseits
nicht jeden«, schreibt er in seiner Autobiografie Mein Hobby:
Tore schießen, erschienen 1959. »Hundert Leute sprachen mich im
Lauf eines einzigen Tages an, luden mich zu einem Glas Bier, einem
Glas Wein oder sonst was ein. Sagte ich ja, hieß es gleich: Seht
euch diesen unsoliden Burschen an. Dem ist die Weltmeisterschaft
wohl in den Kopf gestiegen. Sagte ich hingegen nein, wurde ich für
eingebildet und arrogant
gehalten.«
Er versucht, im
Wirtschaftswunderland sich selbst treu zu bleiben. Angebote von
Real Madrid und aus Südamerkia lehnt
er, der wuchtige Dribbler, der den Ball
zum Leidwesen seiner Gegen- und Mitspieler nur ungern hergibt, ab.
1955 wird er mit Rot-Weiß Essen Deutscher Meister, quält sich
danach mit Verletzungen und Übergewicht, fährt sein Auto
angetrunken in eine Baugrube, legt sich mit den Polizisten an und
wird zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Schließlich geht er im
Frühjahr 1958 ins »Kittchen«. Der sonst so prinzipientreue
Bundestrainer Sepp Herberger hält zu seinem Mannschaftsclown,
dessen unerschütterlichem Optimismus er seinen einzigen großen
Titel verdankt; zu zwei Vorbereitungsspielen auf die WM 1958 reist
Rahn direkt aus der Zelle an, mit sechs Toren wird er in Schweden
bester deutscher Torschütze.
Später spielt er noch
beim 1.FC Köln und als Profi in Holland, was ihn um die Teilnahme
an der WM 1962 in Chile bringt. Zum Beginn der Bundesliga 1963
kehrt er nach Deutschland zurück und festigt 1965 seinen Ruf als
impulsiver Draufgänger: Er ist der erste Spieler, der in der neuen
Ära des deutschen Fußballs vom Platz gestellt wird.
Mehr als genug Stoff also, der immer neu, immer anders erzählt
werden könnte. Doch der Unterhaltungskünstler Rahn, der
prädestiniert zu sein scheint für das Showbusiness, zu dem der
Fußball nach und nach wird, macht nicht mehr mit. Vielleicht ahnt
er, dass er – anders als auffem Platz –
bei diesem Spiel die Kontrolle nicht wird behalten können. Während
der sensible Fritz Walter, Rahns Zimmergenosse während vieler
Länderspielreisen, bis ins hohe Alter bereitwillig den
Vorzeigehelden gibt, verkauft der Boss zusammen mit seinem Bruder
gebrauchte Autos und zieht sich zurück in die Anonymität eines
Mietshauses in Essen-Frohnhausen.
Selbst vom Rummel um Sönke Wortmanns neuen Film Das Wunder von
Bern, der auch eine Hommage an den Boss ist, hat er sich nicht
mehr aus der Reserve locken lassen. Aus dem Helden von Bern ist der
Jerome D. Salinger, der große Verschollene, des deutschen Fußballs
geworden. Am vergangenen Donnerstag ist er gestorben, drei Tage vor
seinem 74. Geburtstag.