Als ich das Haus meines Vaters betrat, war es still.
Totenstill.
Ich hatte geklingelt, doch niemand hatte reagiert. Dabei waren wir
ganz sicher hier und jetzt verabredet. Im Zuge der
Wiedervereinigung unserer kleinen Familie hatte er mir vor einigen
Wochen den Schlüssel
zu seinem Haus überreicht und ich dachte mir, nun sei der richtige
Zeitpunkt, ihn zu benutzen.
Das Mondlicht zeichnete seinen Schein auf den Fußboden und
verwandelte die Vorhänge an den Fenstern zu nächtlichen
Gespenstern.
„Hallo?“, fragte ich in die Dunkelheit hinein. Keine
Antwort.
„Hallo!“, versuchte ich es noch einmal mit lauter
Stimme. Aber auch diesmal antwortete mir niemand.
Unsicher ging ich weiter.
Überall war das Licht aus, doch die Rollläden waren nicht
geschlossen. In mir keimte die Furcht, meinem Vater könne etwas
zugestoßen sein. Ein Stich drang in mein Herz. Ich wollte nicht
schon wieder ein Familienmitglied verlieren.
Nein, korrigierte ich mich, nicht irgendein
Familienmitglied. Das letzte. Der letzte lebende
Verwandte.
Ich hatte so lange gesucht, um ihn zu finden …
Hastig verdrängte ich die schlimmen Gedanken und fuhr mit meiner
Durchsuchung fort. Wo immer ich entlang kam, machte ich das Licht
an. Und jedes Mal umklammerte mich dabei die Angst, etwas zu
entdecken, das ich gar nicht sehen wollte.
Wie ich so durch das Haus wanderte, fand ich mich plötzlich vor dem
alten, vielleicht sogar antiken, Spiegel wieder, der an einem
massiven Schrank hing. Der große, beinahe bis zum Boden reichende
Spiegel, war für meinen Vater ein ganz besonderes Stück. Er sagte,
es sei ein magischer Spiegel. Und man dürfe niemals im Mondschein
hinein sehen.
Manchmal war mein Vater ein komischer Kauz, wenn auch auf eine
liebenswerte Art und Weise. Tatsächlich achtete er immer peinlich
genau darauf, den Spiegel mit einem Tuch zu verhängen, bevor die
Sonne unterging.
Nun lag das Tuch am Boden und bleicher Mondschein fiel auf den
Spiegel. Hatte sich dort etwas bewegt?
Auf einmal wollte ich unbedingt das Licht anmachen. Dabei glaubte
ich doch gar nicht an die Geschichten meines Vaters.
Der Lichtschalter befand sich auf der anderen Seite des Zimmers.
Ich musste wohl oder übel an dem Spiegel vorbei.
Ich redete mir selbst Mut zu, atmete tief durch und schlich mich an
den alten Spiegel an, als handle es sich um ein schlafendes
Raubtier. Ohne in den Spiegel zu sehen, duckte ich mich und hob das
Tuch auf.
Die feinen Härchen in meinem Nacken kribbelten.
Nur ein Spiegel, sagte ich mir immer wieder, nur ein
dummer, alter Spiegel.
Mit geschlossenen Augen richtete ich mich auf, doch um das Tuch
aufzuhängen, musste ich sie öffnen. Und mein Blick streifte
zwangsläufig die glatte, spiegelnde Oberfläche.
Das nächtliche Licht malte unheimliche Schatten auf das Gesicht,
das mir mit seinen dunklen Augen entgegen blickte. Doch es war mein
Gesicht. Einfach nur mein Gesicht.
Ich lächelte mein Spiegelbild an. Wie hatte ich nur so einfältig
sein können? Angst vor einem Spiegel zu haben!
Aber warum sahen meine Augen mich so gierig an?
Und dann veränderte sich das Spiegelbild. Mein Gesicht verzerrte
sich, formte eine spitze Schnauze und tiefe Augenhöhlen, die Haut
spannte sich, wurde dunkler und platzte über den Wangenknochen auf,
die Augen selbst bildeten geschlitzte Pupillen, eingerahmt von
leuchtend gelber Iris.
Es beugte sich vor. Der Spiegel beschlug durch seinen heißen
Atem.
Ein Schrei blieb mir im Halse stecken. Ich keuchte auf, stolperte
zurück und landete auf meinem Hinterteil. In meiner Hand hielt ich
noch etwas Weiches. Das Tuch!
So schnell wie ich konnte, rappelte ich mich auf und sprang vor, um
das Tuch über den Spiegel zu werfen. Eine kalte Hand mit langen
Krallen löste sich aus dem Spiegel und hielt meinen Arm fest. Ich
schlug nach ihr, zerrte und schrie, aber das bizarre Monster blieb
unbeeindruckt. Statt seinen Griff zu lockern, packte es noch fester
zu. Sein Arm ragte bereits bis zu einem deformierten Ellenbogen aus
dem Spiegel und auch die zweite Hand begann langsam, sich aus der
glatten Fläche zu schälen.
Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen den Haltegriff des Unwesens,
drückte die Füße gegen den Schrank und zog.
Der Schrank wackelte und kippte. Gerade noch rechtzeitig schaffte
ich es, zur Seite zu springen, bevor das schwere Möbelstück auf den
Boden krachte und lautstark zerschmetterte.
Der Schreck saß mir noch tief in den Knochen, da durchflutete
Erleichterung meinen Körper. Es war tot!
Eine Falte des Tuches, die unter dem Schrank hervor ragte, bewegte
sich, wölbte sich auf und entblößte eine unmenschliche Hand.
Ich drehte mich um, rannte los und schlug auf den
Lichtschalter.
Das Deckenlampe ging an und erleuchtete das Zimmer. Geblendet
blinzelte ich und drehte mich um. Der massive Schank lag
zerschmettert auf dem Boden, die Ecke eines Tuches spitzte darunter
hervor. Spiegelnde Scherben verteilten sich über die gesamte Fläche
des Zimmers.
Doch sonst – nichts. Der Spuk war verschwunden.
Vielen Dank an die Autorin - Felicia Chalas
Glückwunsch an die Erstfinder:
FTF : Plotino
SFT : drei-st
TFT : blauer_klatschmohn
Das gesuchte Haus befindet
sich auf einem Privatgrundstück, der Eigentürmer ist informiert und
einverstanden