Mariahilfer Gürtelwichte
Einer der wenig bekannten Wiener Sagenkreise dreht sich um die Mariahilfer Gürtelwichte – und es ist schwer zu entscheiden, ob es sich um eine Sage oder Tatsachen handelt. Die Gürtelwichte werden meistens als menschenähnliche Wesen beschrieben, etwa 10 bis 15cm groß. Sie sollen im Bereich des alten Linienwalles zwischen dem Wienfluß und dem alten Mariahilfertor (der heutigen Kreuzung der Mariahilfer Straße mit dem Gürtel) gesichtet worden seien.
Die ersten sporadischen Berichte über sie tauchen in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf, ein paar Jahre nach dem Bau des Linienwalles. Seit damals berichteten die Bewohner von Gumpendorf und vor allem auf dem Wall patrouillierende Soldaten über „Zwerge“, die sie nach Anbruch der Dämmerung in der Nähe der Befestigungen gesehen haben wollen. Unter der Bevölkerung wurden die Berichte lange nur als Hirngespinste Betrunkener, die nur Ratten oder Katzen gesehen haben, abgetan. Die offiziellen Stellen ignorierten sie völlig.
Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts häuften sich aber die Sichtungen, so dass im Jahr 1865 das Wiener Militärkommando den Major der k.u.k. Artillerie Hermann von Schnabel beauftragte, alle Berichte über die sogenannten „Linienwichte“ zu sammeln und zu prüfen. Der österreichisch-preußische Krieg im Jahre 1866 beendete aber die erste offizielle Untersuchung, weil Major von Schnabel am 3. Juli 1866 in der Schlacht bei Sadowa fiel. Seine Berichte verschwanden im Archiv. Von Schnabels Berichterstattung an seine Vorgesetzten trägt an ihrem Vergessen eine nicht geringe Schuld, da der Major selbst die Existenz der Wichte stark bezweifelte. Seine Ordonnanz erzählte etwa 27 Jahre später der Wiener Zeitung, dass er seine Befragung praktisch nur auf Wäscherinnen und Prostituierte beschränkte und alle seine (übrigens negativen) Berichte mehr oder weniger frei erfunden hatte.
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K.u.k. Militär-Bauingenieur Feldwebel Rudolf Fiedler [Mitte] vor der Gumpendorfer Kaserne (1893) |
Eine Wende kam mit der Schleifung des Linienwalles. Kurz nach dem Beginn der Abtragung der alten Befestigung, am 12. August 1894 entdeckten Arbeiter angeblich im Inneren der Mauern ein weit verzweigtes Höhlensystem, das laut Augenzeugen nicht von Tieren stammen konnte. K.u.k. Militär-Bauingenieur Feldwebel Rudolf Fiedler, der die Arbeiten südlich des Mariahilfertores an dem Tag bewacht hatte, erzählte dem Reporter der Wiener Zeitung über Räume von bis zu einem halben Kubikmeter Größe. Diese waren mit einfachen Einrichtungsgegenständen, die an Puppenhäuser erinnert haben, ausgestattet, verfügten über volle Vorratskammern und schmale Gänge mit verschließbaren Türen. Bei den am Tag durchgeführten Arbeiten wurden jedoch in den kleinen Stollensystemen keine Lebewesen, abgesehen von Insekten und ein paar Mäusen, entdeckt. Die Wiener Zeitung druckte am 14. August einen ausführlichen Bericht über die Entdeckung. Die ganze Auflage wurde jedoch auf Grund einer Verordnung der Abteilung 52 des Innenministeriums (bekanntlich gegründet im Jahre 1874 zur Untersuchung unerklärlicher Phänomene) beschlagnahmt und musste mit einem neutralen Artikel über die Abbruchsarbeiten neu gedruckt werden. Feldwebel Fiedler wurde noch in der gleichen Woche nach Galizien verlegt, wo sich seine Spur kurz darauf verliert.
In den folgenden Wochen berichteten Bewohner der liniennahen Häuser über eine Rattenplage; sie hörten nachts raschelnde Geräusche aus Wänden und Kellern. Einige von ihnen behaupteten zwar wieder, es seien keine Nager, sie hätten kleine Wichte gesehen, ihre Behauptungen konnten aber nicht beweisen werden. Die Kammerjäger hatten alle Hände voll zu tun, um der Plage Herr zu werden.
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Das Haus in der Blaugasse 2 kurz vor dem Abbruch (1903) |
Mit dem Bau der teilweise unterirdisch geführten Stadtbahn verschwanden die meisten Beschwerden und auch Berichte über Sichtungen der Wichte wurden rarer. Bis – im Herbst 1902 die Wiener Zeitungen meldeten, Rosa Tilz aus der Blaugasse 2 unterhalte Kontakt zu den in ihrem Haus wohnenden „Gürtelwichten“. Dieser Name hatte sich nach der Schleifung des Linienwalls im Volksmund eingebürgert. Sie sollen für sie sogar – gegen Belohnung mit Essensresten – kleinere Hausarbeiten erledigen und Mäuse fangen. Universitätsprofessor Hermann Grünberg untersuchte die Wohnung der Familie Tilz, konnte jedoch keine Spuren finden. Einige Monate später wurde das Haus abgerissen; heute steht auf seinem Platz das Haus Mollardgasse 36.
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Rosa Tilz [vorne] mit ihrer Freundin Johanna Nowotny (1901) |
Im Jahre 1952 untersuchte noch einmal eine Gruppe Wiener Studenten (einer von ihnen war Manfred Tilz, Enkelsohn von Rosa Tilz) unter der Führung des Kulturanthropologen Prof. Dr. Kühne zusammen mit zwei namentlich nicht genannten Wissenschaftlern der französischen Armee, in deren Besatzungszone der Gürtel zwischen dem 6. und 15. Bezirk fiel, die lokale Sage. Es kamen keine neuen Erkenntnisse zutage. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es auch kaum neue bekannt gewordene Sichtungen. Die Wissenschaftler zogen in ihrem abschließenden Bericht den Schluss, dass die Wichte – falls es solche tatsächlich geben sollte – extrem menschen- und lichtscheu geworden sind und nur bei Schwarzlicht beobachtet werden können. Da sie aber keine tatsächlichen Beweise für die Existenz der Gürtelwichte finden konnten, kam es zu keiner Sensation. Über die Untersuchung wurde nicht einmal in der akademischen Presse berichtet und sie geriet bald in Vergessenheit.
Der Autor dieser Zeilen bekam durch einen glücklichen Zufall im Sommer 2010 Zugang zum Nachlass von Dr. Manfred Tilz und konnte die darin enthaltenen Dokumente studieren. Es ist nur verständlich, dass Dr. Tilz, durch seine Verwandtschaft mit Rosa Tilz bedingt, sein Leben lang an die Existenz der Gürtelwichte geglaubt und akribisch alles über sie gesammelt hat. Aus Unterlagen, die er kurz vor seinem Tod noch zusammengestellt hat, geht hervor, dass er eine Siedlung der Wichte im Bereich Otto Wagners Stadtbahnbrücke vom Sechshauser Gürtel über den Wienfluß Richtung Meidling vermutet hat.
November 2010
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Mariahilfer Gürtel, Ort der Sichtungen der Gürtelwichte (Aufnahme aus den 30er Jahren des 20. Jhdt.) |
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