Quelle: Lorbeer, Wikipedia (abgewandelt)
Wo ist Molly Preston?
Charles schloss die Tür zu Molly Prestons Einzimmerappartement auf. Er hatte heute schon mehrmals versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber es meldete sich immer nur die Mobilbox. Die Wohnung war so sauber, als erwartete sie nur noch den Besuch des Maklers, um so schnell wie möglich wieder vermietet zu werden. Molly war also wieder einmal verschwunden.
Charles trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Insgeheim überraschte es ihn nicht; Molly war bereits seit sechs Monaten bei Immobiquest beschäftigt, und normalerweise brauchte sie nicht so lange, ihrem Auftraggeber Insider-Details zu ihrem momentanen Arbeitgeber zu beschaffen. Mollys Auftraggeber kannte er bis heute nicht, aber die Firmen, für die sie arbeitete, fanden sich kurz nach ihrem Verschwinden regelmäßig in den Medien oder vor diversen Gerichten wieder. Und die Schlagzeilen waren selten positiv.
Charles sog die Luft ein. Im Raum hing noch der Geruch ihres Parfums, obwohl auf den ersten Blick nichts mehr auf ihre Anwesenheit hinwies. Sechs Monate hatte sie hier gelebt und geliebt, ihn geliebt, nun erinnerte nur noch ihr Duft an sie.
Nun denn. Sein Zimmer in der kleinen Pension hatte er wie immer nur eine Woche im Voraus bezahlt, er wusste schon warum. Wenn Molly nicht mehr hier war, hielt ihn auch nichts mehr. Die Frage war nur, wohin Mollys nächster Auftrag sie führen würde. Paris, Mailand, Rom? Sidney? Johannesburg?
Aufmerksam sah er sich um. Er spielte das Spiel nicht zum ersten Mal. Jedesmal fragte er sich aufs Neue, ob die ganze Scharade wirklich notwendig sei, aber Molly ließ da nicht mit sich reden. Wenn ein Job erledigt war und sie zum nächsten aufbrach, hinterließ sie keine Spuren. Fast keine. Es war an ihm, die Hinweise zu finden, zu deuten und Molly wiederzufinden. Ein neues Leben zu beginnen, Molly neu kennenzulernen und weitere drei oder sechs Monate an ihrer Seite zu sein, bis zu ihrem nächsten Verschwinden.
Er begann, systematisch das Zimmer zu durchsuchen. Das Bücherregal war leer, der kleine Schreibtisch vor dem Fenster ebenfalls. In den Schubladen - nichts. Er hatte auch nichts erwartet, so offensichtlich war Molly nicht. Unter dem abgezogenen Kopfkissen wurde er zum ersten Mal fündig: zwei trockene Lorbeerblätter lagen da. Er nahm sie an sich, roch daran. Lorbeer mit ein bisschen Molly. Er schüttelte die Decke aus, drehte die Matratze um, nichts.
Er zog die Nachttischschublade auf und fand einen zusammengeknüllten, kleinen Zettel. Er strich ihn glatt und sah Linien, lang und kurz:
Lächelnd steckte er den Zettel zu den Lorbeerblättern in die Brusttasche seines Hemds. Zwei hatte er. Wenn Molly verschwand, hinterließ sie immer drei Hinweise: einen Ort, ein Datum und eine Uhrzeit. Er hatte keine Ahnung was das, was er gefunden hatte, bedeutete, aber er würde es herausfinden.
Einer noch. Nochmals überprüfte er den Schreibtisch, die Schubladen, das Bücherregal. Erst als er das Regal von der Wand wegschob, fand er unter dem Sockel ein Buch, wie zufällig dahintergerutscht. Bruce Chatwin, Traumpfade, ein Reisebericht über Australien, mit einem gewebten Bändchen als Lesezeichen. Er schlug es da auf, wo das Bändchen lag, und las die mit Bleistift unterstrichene Zeile: "Le vrai moleskine n'est plus". Am Seitenrand, kaum sichtbar in winzigen Lettern, entzifferte er "1686".
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